

Kampagne 2020 «Schau zu dir – du bist es wert»
Treffen die Belastungen rund um die gegenwärtige Pandemie nur die so genannten Risikogruppen, mehrheitlich ältere Menschen? Lässt die aktuelle Situation junge Menschen kalt? Ein solcher Eindruck täuscht. Was die Psyche betrifft, sind junge Menschen aktuell ebenfalls stark belastet.
Das Telefon 143 verzeichnete eine Häufung von Anrufen von jungen und sehr jungen Menschen. Auch auf psy.ch war ein Anstieg von Anfragen zu verzeichnen. Die Belastungen rund um die Pandemie wirken sich auch auf junge Menschen aus. Zukunftsängste bezüglich des Jobs, Unklarheiten in Lehre und Ausbildung, schwierige Stellensuche nach der Lehre und dem Studium, aber auch Gefühle der Einsamkeit machen ihnen zu schaffen. Vor allem bei jungen Müttern kommt die Frage der Vereinbarkeit hinzu, die sich verschärft hat.
Die aktuelle Präventionskampagne mit der Botschaft «Schau zu dir – du bist es wert» ermutigt junge Erwachsene bei Krisensituationen und psychischen Problemen im Alltag auf sich zu hören, Gefühle ernst zu nehmen und rechtzeitig Hilfe zu suchen und sich dafür nicht zu schämen.
Von den Kollegen überholt
Jim möchte den ganzen Tag gamen und schlafen … Und du?
Eigentlich ist die Situation von Jim schon lange unhaltbar. Er merkt es und kann sich doch nicht aufraffen, etwas zu verändern. Nach einer abgebrochenen Lehre als Sanitär hat Jim auch seine Lehre als Elektriker abgebrochen, trotz grosser Unterstützung durch den Lehrbetrieb. Er kam immer häufiger zu spät zur Arbeit, schwänzte die Berufsschule und musste schliesslich gehen. Nun sitzt er zu Hause, hängt herum, kifft viel, schläft tagsüber, kann in der Nacht nicht schlafen und schlägt sich die Zeit mit gamen um die Ohren. Er kommt in einen Teufelskreis. Diffuse Ängste plagen ihn, und er fühlt sich allein. Seine Kollegen schliessen derweil ihre Ausbildungen ab. Im Vergleich zu ihnen fühlt sich Jim als Versager. Sie können es sich leisten, in den Ausgang zu gehen oder Ferien zu machen, während er Geldprobleme hat und seiner Mutter auf der Tasche liegt, die das Geld für die Familie verdient. Der Vater ist früh gestorben. Die Mutter setzt ihm ein Ultimatum und verlangt, dass sich etwas ändert. Jim möchte mit seiner Mutter aber nicht reden, denn er möchte sie nicht belasten.
Es kommt Bewegung in sein Leben, als er wegen einer Grippe zu seinem langjährigen Hausarzt geht. Dem Hausarzt fällt auf, dass Jim übernächtigt aussieht und fahrig wirkt und spricht Jim auf psychische Probleme an. Endlich kann Jim eingestehen, dass es ihm nicht gut geht. Er wird an einen Psychiater überwiesen. Jim ist überrascht, wie gut es ihm tut, mit jemandem Aussenstehenden über sein Leben und seine undefinierbaren Ängste zu sprechen. Er nimmt an einem Beschäftigungsprogramm teil. Dort lernt er eine junge Frau kennen, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hat wie er. Sie wirkt ganz normal und nicht so, wie sich Jim eine Person mit psychischen Problemen vorgestellt hat. Er bewundert die Offenheit, mit der die neue Kollegin über ihre Depressionen spricht. Sie nimmt ihn so, wie er ist und kann ihn mitziehen.
Jim steht wieder jeden Morgen auf. Seit langem fühlt er sich nicht mehr allein. Auch mit der Mutter kommt er wieder ins Gespräch. Sie hilft ihm dabei, eine Lehrstelle als Sportartikelverkäufer zu finden. Jim mag diese Arbeit sehr gut. Zu seiner Überraschung gefällt ihm vor allem der Kontakt zu anderen Menschen. Er überlegt sich, nach Lehrabschluss eine Zusatzausbildung im sozialen Bereich anzupacken. Jim merkt, dass er auch mit seinen Kollegen über seine Probleme sprechen kann. Je offener er ist, desto grösser ist das Verständnis.
Fremd in der Familie
Carmen sucht Trost und ritzt sich… Du manchmal auch?
Carmen ist das jüngere von zwei Geschwistern und lebt noch zu Hause. Der Bruder ist wesentlich älter, studiert und ist schon ausgezogen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder wurde Carmen adoptiert. Sie fragt sich häufig, warum sie adoptiert wurde und hat das Gefühl, schon immer eine Aussenseiterin gewesen zu sein, auch zu Hause. Carmen empfindet ihre Mutter als übertrieben fürsorglich, ängstlich und kontrollierend. Die aufopfernde Art ihrer Mutter ärgert und provoziert Carmen. Es kommt immer häufiger zu Streitereien. Carmen weigert sich mit ihrer Mutter zu sprechen, verschliesst sich. Der Vater, ein erfolgreicher Kadermann, kommt von all dem wenig mit, da er kaum zu Hause ist. Das Verhältnis zu ihrem Vater erlebt Carmen als sehr oberflächlich und kühl. Er ist streng und hat schon früh durchblicken lassen, dass auch Carmen aufs Gymnasium gehen muss. Das ist einfach selbstverständlich. Es ist aber nicht möglich, denn Carmen bringt die Leistung dafür nicht mit. Das wird im Gespräch mit den Lehrpersonen deutlich.
Die Lage spitzt sich zu, als Carmens beste Freundin wegzieht. Carmen fällt in ein Loch, beginnt sich heimlich zu ritzen. Zunehmend hat sie das Gefühl, nicht gut genug zu sein, keine Zukunft zu haben. Im 10. Schuljahr geht sie abends lange aus, trinkt viel Alkohol. Dabei kommt manchmal der Gedanke auf, sie möchte gar nicht mehr leben. In einer dieser Nächte vertraut sie sich einer Kollegin an. Diese zeigt Verständnis. Carmen besucht danach oft die Kollegin und ihre Mutter. Sie reden lange miteinander und Carmen kann erzählen, wie sie sich fühlt und wie schlecht es ihr geht. In der Familie der Kollegin redet man offen miteinander und kommt gut miteinander aus, was Carmen beeindruckt. Sie wagt es auf Anraten der Mutter der Kollegin, sich ihrer eigenen Mutter anzuvertrauen. Diese zeigt Verständnis. Sie ahnte schon lange, dass etwas nicht stimmte und ist froh, dass sie helfen kann. Die beiden suchen sich Hilfe bei einer Psychologin und Carmen beginnt eine Gesprächstherapie. Der Vater hat nichts dagegen, beteiligt sich aber nicht aktiv. Das ist nicht seine Welt.
Weil Carmen immer davon ausging, dass sie studieren würde, hatte sie sich gar nicht mit der Berufswahl auseinandergesetzt. Sie hatte sich gar nie gefragt, was für Berufe es überhaupt gibt. Nun merkt sie, wie viele Möglichkeiten ihr offen stehen. Nach einem Sprachaufenthalt wird sie Kleinkindererzieherin.
NORAS STORY
Eigentlich sollte ich doch glücklich sein
Nora hat mit ihren 29 Jahren schon einiges unternommen: Die selbstbewusste junge Frau arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau einige Jahre und reiste danach begeistert um die Welt. Sie war stolz darauf, ihre Reise mit kleinen Jobs rund um den Erdball selber finanzieren zu können, unabhängig zu sein. Auf der Reise lernte sie ihren Mann kennen, mit dem sie bald eine Familie gründete. Die beiden kauften sich ein Haus, man hofft auf ein zweites Kind.
Das Paar hatte abgemacht, dass Nora zu Hause bleiben würde, so lange die Kinder klein sind. Während ihr Mann im Job erfolgreich ist und oft längere Zeit im Ausland verbringt, fühlt Nora daheim zunehmend eine Leere, für die es scheinbar keinen Grund gibt. Sie hat ja alles, was sie braucht und sollte doch glücklich sein. Ihr Mann kommt oft erschöpft nach Hause und hat nicht mehr so viel Zeit und Lust, sich mit dem Kind abzugeben und seiner Frau zuzuhören. Nora fühlt sich vernachlässigt und übergangen. Das führt zunehmend zu Konflikten, denn das Paar hatte abgemacht, dass auch der Vater sich so oft wie möglich um die Kleine kümmern würde. Die Zeit dazu fehlt nun aber. Dass ihr Mann nicht ohne weiteres eine neue Stelle mit mehr Freizeit findet, versteht sie. Dennoch fühlt sie sich gleichzeitig allein gelassen und missverstanden. Sie hat zunehmend Mühe, den Haushalt im Griff zu behalten. Wäscheberge türmen sich, und Nora mag es nicht mehr, wenn Nachbarinnen oder Freunde spontan vorbeikommen. Sie schämt sich für ihre scheinbare Unfähigkeit. Sie zieht sich zurück, und meidet den Kontakt. Die Einsamkeit wird immer belastender. Sie weint oft. Langsam geraten ihre Gedanken ins Rotieren, sie hat Schlafprobleme und kommt zunehmend ins Grübeln. Nora fühlt sich oft wertlos. Manchmal ertappt sie sich dabei, wie sie teilnahmslos ins Leere starrt. Ihr Kind nervt sie manchmal schon bei kleinen Anlässen, was Nora im Nachhinein Gewissenbisse bereitet. Die Kleine kann ja wirklich nichts dafür. Sie spricht darüber mit ihrem Mann, der die Situation nur schwer verstehen kann und hofft, dass sich das Problem von selber wieder löst. Erst beim Gespräch mit dem Hausarzt stösst Nora auf offene Ohren. Sie vereinbart einen Termin in einem regionalen Ambulatorium. Hier erlebt sie seit langem wieder, wie es ist, über ihre Lage sprechen zu können, ohne dafür verurteilt zu werden. Ein Jahr lang nimmt sie eine Psychotherapie in Anspruch und ordnet dabei ihr Leben neu.
Im Verlauf der Therapie merkt sie, dass sie wieder ausser Haus arbeiten möchte. Prompt findet sie eine Stelle. Die Arbeit erfüllt sie und gibt ihr Kraft. Auch etwas mehr Anregung von aussen braucht die junge Frau: Mit einer Freundin unternimmt sie deshalb jeden Monat eine abenteuerliche Biketour, bei der sie ihr altes Reisefieber aufleben lässt.
LIVIOS STORY
Das Studium als Belastungsprobe
Der 20-jährige Livio freut sich, die Matura endlich abgeschlossen zu haben. Sein Studium will er in einer anderen Stadt anfangen. Als er mit seinem besten Freund Julian in der neuen Stadt auch eine bezahlbare Wohnung findet und die beiden in ihre neu gegründete WG einziehen, scheint alles perfekt. Die Vorfreude auf das neue Leben als Student ist riesig. Livio ist voller Energie und Tatendrang.
Doch der Einstieg ins Studium ist für Livio schwieriger als erwartet. Es dauert lange, bis er sich mit den vielen Vorlesungen, mit den Studienarbeiten und den Prüfungen einigermassen zurechtfindet. Dazu kommen die vielen Mitstudierenden, mit denen er Kontakt aufbauen muss, was Livio nicht immer einfach fällt. Alles ist neu, ungewohnt und irgendwie nicht so, wie Livio sich das vorgestellt hat. Julian ist viel unterwegs und nur selten in der WG anzutreffen. Livio ist oft allein, auch am Wochenende. Livio beginnt zu zweifeln. Er beginnt seine Studienwahl in Frage zu stellen, und er vermisst seine Freunde von früher. Immer öfters fühlt er sich einsam und überfordert in der neuen Umgebung. Die Zwischenprüfungen besteht er nur noch mit Ach und Krach, die dritte Zwischenprüfung muss er sogar wiederholen. Livio verliert sein Selbstvertrauen. Die Freude am Studium schwindet und es wird zunehmend zur Belastung. Immer öfter ertappt er sich dabei, wie er das Lernen hinauszögert und stattdessen stundenlang im Internet Filme anschaut oder am Gamen ist. Am Studentenleben nimmt er schon lange nicht mehr teil. Er zieht sich mehr und mehr in seine Welt zurück, verschliesst sich und geht allen aus dem Weg. Selbst Ausgehangebote seines Freundes Julian lehnt er mit Ausreden ab. Er behält seinen Kummer und die negativen Gedanken lieber für sich. Erst als ihn eine Kollegin von früher anruft und nachfragt, wie es ihm in der neuen Stadt gefällt, merkt er beim Erzählen, dass es ihm eigentlich schon lange nicht mehr gut geht.
Auf Anraten der Kollegin sucht er sich bei der Beratungsstelle für Studierende Hilfe. Im Gespräch merkt er, dass es auch anderen Studierenden so geht. Er lernt, sein Studium besser zu strukturieren und wieder an sich zu glauben.
Nach der Beratung überwindet sich Livio, seinen Mitbewohner anzusprechen und ihn zu fragen, ob sie auch wieder etwas gemeinsam unternehmen könnten. Etwas überrascht sagt Julian zu, der gar nicht gemerkt hat, wie sich Livio zurückgezogen hatte. Auch andere Kollegen reagieren erleichtert, als Livio ihnen von seinen Problemen erzählt. Einige von ihnen haben schon Ähnliches erlebt und sich Hilfe geholt. Livio ist gar nicht so allein, wie er immer gedacht hat. Die Lerngruppe, der er beigetreten ist, hält ihm bei der Prüfungsvorbereitung auf Trab. Ab und zu besucht er seine alten Freunde und seine Eltern in der Heimatstadt. Das Leben in der neuen Stadt macht wieder deutlich mehr Spass, und die Lebensfreude ist zurück.
WO FINDEST DU HILFE
Manchmal ist es nicht einfach, auf Anhieb das richtige Angebot zu finden. Folgende Anlaufstellen können eine erste Orientierung bieten, um herauszufinden, an wen man sich wenden kann:
Psy.ch ist eine Plattform im Internet mit Hilfsangeboten (Therapie, Beratung, Selbsthilfe) im Kanton Bern.
Tel 143 ist das Schweizer Sorgentelefon (auch Online) für Probleme aller Art
TIPPS
Wie kann eine Krise am besten überstanden werden?
- Wichtig ist es, in Kontakt zu bleiben und sich nicht zurückzuziehen.
- In einer Krise ist es wichtig, die Grundbedürfnisse zu wahren: Genügend schlafen, essen, trinken und sich bewegen. Das mag einfach tönen, geht aber im Strudel einer Krise leicht vergessen.
- Sich professionelle Hilfe zu holen ist kein Zeichen von Schwäche. Man muss nicht zuwarten, bis man in einer schweren Krise steckt. Professionelle Hilfe kann kleine Veränderungen bewirken, die eine schwere Krise verhindern. Wenn man professionelle Hilfe braucht, können Empfehlungen von Bekannten eine wichtige Hilfe sein.
- Sehr hilfreich kann es sein, wenn man eine Begleitperson findet, die einen bei der Suche nach Hilfe und beim Aufsuchen von Fachpersonen unterstützt.
WARNSIGNALE
Die folgenden Warnsignale können vorübergehend sein, sie können aber auch am Anfang einer psychischen Krankheit stehen. Psychische Störungen sind behandelbar. Wenn du solche Warnsignale bei dir beobachtest, sprich mit einer nahestehenden Person darüber und hol dir Hilfe. Wenn du diese Warnsignale bei Nahestehende beobachten, sprich die Person darauf an.
- ungewöhnliche Stimmungsschwankungen
- Schlafstörungen
- Appetitlosigkeit
- fehlende Motivation oder Leistungsabfall in der Schule, im Studium oder im Beruf
- Rückzug von Freunden/-innen, Kollegen/-innen oder Familienangehörigen
- das Gefühl, anderen nicht mehr trauen zu können
- Ideen hegen, die für andere nur schwer nachvollziehbar sind
- negative Gedanken gegenüber sich selbst
- die Kontrolle über Alkohol oder andere Drogen verlieren
WAS KÖNNEN ANDERE TUN
Was können Angehörige sowie Freunde und Freundinnen tun?
Angehörige, Freundinnen und Freunde und weitere Nahestehende spüren oft sehr genau, wenn eine geliebte Person in einer ernsthaften Krise ist. Dies können sie tun:
- Die eigenen Gefühle und Beobachtungen ernst nehmen, sich informieren und selber aktiv werden.
- Mit der betroffenen Person reden und ihr empfehlen, sich Hilfe zu suchen.
- Besonders Familienangehörige und Partner/innen stehen oft unter grossem Druck und verändern selber ihr Verhalten, beispielsweise indem sie sich zurückziehen. Dem können sie entgegenwirken und den Austausch suchen (z.B. bei einer Selbsthilfegruppe).
- Allenfalls selber fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.